Festvortrag am 12. Juni 1997 zum 10-jährigen Bestehen des ÖkoBüro Hanau von Prof. Elmar Schlich 

Können wir uns - trotz der sozialen Krise - "Öko" noch leisten?

Dies ist die Frage, welche die Initiatorinnen und Initiatoren des heutigen Jubiläumstreffens sich, uns allen und - vielleicht stellvertretend - mir stellen. Können wir uns trotz der sozialen Krise 'Öko' noch leisten? Ein Jubiläum zum zehnjährigen Bestehen könnte, sollte und dürfte durchaus auch etwas mit Jubel zu tun haben. Die gestellte Ausgangsfrage klingt jedoch nicht nach Jubel, auch nicht im Hintergrund. Sie klingt auch nicht nach Aufbruch, Freude, Zuversicht, Mut oder Gelassenheit. Gelassenheit, die aus den Erlebnissen der letzten zehn Jahre und den fraglos er-eichten Fortschritten geschöpft werden könnte.

Denken wir doch einmal gemeinsam zurück an die letzten zehn - und ich gestatte mir persönlich - auch die letzten zwanzig Jahre: 1977 - 1987 - 1997!

Ist es nicht so, daß damals die Menschen, die z. B. die EnergieWende eingefordert und die zugehörigen Studien vorgelegt haben, auf deren Basis schließlich die EnergieWendekomittees entstanden sind, daß damals diese Menschen verlacht und als linke Spinner oder Wolkenkuckucksheimer diskreditiert worden sind? Ist es nicht so, daß die Begründerinnen und Begründer der global denkenden und lokal handelnden Initiativen seinerzeit sogar von Verfassungsschützern beobachtet wurden, weil man Systemveränderern unterstellte, nicht "auf dem Boden der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung (FDGO)" zu stehen. Ich gehe davon aus, daß Sie diesen Begriff noch gut kennen, den es übrigens im Wortlaut des Grundgesetzes und der Verfassung nicht gab und nicht gibt, der aber inzwischen - auch das zweifellos ein Erfolg - in der Mottenkiste vergraben ist Und ist es nicht so, daß die Hanauer Atomanlagen inzwischen stillgelegt sind, obwohl das Hauptaugenmerk der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit eher auf Wyhl, Brokdorf, Wackersdorf und Gorleben lag als auf Hanau-Wolfgang?

Wir erinnern als nachhaltigen Erfolg, daß die Wachstumsideologen der siebziger und achtziger Jahre mit ihren euphorischen Steigerungsraten des exzessiven Energiekonsums unserer Gesellschaft kräftig daneben gelegen haben. Damals waren Bruttosozialprodukt und Energieumsatz direkt miteinander gekoppelt, jedenfalls in den offiziellen Prognosen der Wirtschaftswissenschaftler und Energiezentralen.

Diejenigen, die solche Prognosen als Wunschdenken der Energiekonzerne bezeichneten und gewaltige, unter Kostendruck laufende Effizienzsteigerungen vorhersagten, also damit die Entkoppelung von Ressourcenverbrauch und Wachstum des Bruttosozialproduktes prognostizierten, können sich heute bestätigt fühlen.

Niemand käme heutzutage - abgesehen vielleicht von eingefleischten Nu-learideologen im stillen Kämmerlein - auf die Idee, jedem Dorf sein Kernkraftwerk zu wünschen, um damit die Energie- und Treibhausprobleme zu lösen. Solche Vorschläge gehörten übrigens - ich erinnere das eher mit Belustigung - in den siebziger Jahren noch zum Repertoire mancher linker Basisgruppen, welche die dezentrale Autonomie der Sozialwesen gefordert haben und mit der Atomenergie gewisse eher unreflektierte Hoffnungen in diese Richtung verbanden.

Allerdings bin ich mir manchmal nicht so sicher, ob nicht auch Frau Merkel am liebsten flächendeckend Nuklearkraftwerke einsetzen würde, um über die kapitalintensive und daher arbeitsplatzarme, weil zentralisierte Energieversorgung die Gewinne der Gebietsmonopole zu sichern, unter dem Vorwand der angeblich so treibhausfreundlichen nuklearen Stromerzeugung.
Dennoch, trotzend Frau Merkel und anderen: Heute - und Sie mögen mir den kleinen Schlenker gestatten - werden diejenigen Absolventinnen und Absolventen unserer Universität eingestellt (wenn sie denn überhaupt einen Ar-beitsplatz kriegen), weil sie z. B. von modernen ökologischen Energiemanagementsystemen, von Energy-Contracting - wie wir neudeutsch sagen - und von Least-Cost Planning etwas verstehen. Speziell diese Managementverfahren sind in den letzten 10 bis 15 Jahren entstanden, ausschließlich übrigens - und das ist nicht zufällig so - ausschließlich in nichtstaatlichen und nicht gewinnorientierten Organisationen.

Damals diskreditiert und mit äußerstem Mißtrauen belegt, schließlich im Zeitalter der Überkapazitäten bei der Stromerzeugung im Hinterzimmer diskutiert, heute als Schmuckstück des eigenen Managements bei VDEW oder RWE in Hochglanzprospekten hervorgehoben: Auch das ist die Entwicklung der letzten zehn Jahre, um nur ein Beispiel, nämlich das Beispiel des Managements leitungsgebundener Energieträger zu nehmen. Schlagworte wie Negawatt statt Megawatt haben den Spruch der achtziger Jahre - Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose - abgelöst.

Heute arbeiten viele - auch wir - also daran, bei sinkendem Energiekonsum gleichen Wohlstand zu garantieren. Das nennen wir Effizienzstrategie, auch wenn wir heute schon wissen, daß dies nur kurz- und mittelfristig tragfähig sein wird. Manche große Namen gar publizieren Studien zum doppelten Wohlstand bei halbem Verbrauch. Offenkundig ein Erfolg der letzten zehn Jahre, auch ein Erfolg des ÖkoBüros Hanau, offenkundig ein Erfolg!

Offenkundig ein Erfolg? Ich möchte die Ausgangsfrage variieren und - nach vorne schau-end - einmal kritisch nachfragen:

Ist es nicht auch sehr deutsch, sehr westlich, sehr europäisch, die Steigerung der Effizienz - orientiert an den Kosten - zum wohlstandsorientierten Maßstab des Erfolges zu machen? Können wir uns Öko noch leisten?

Entspricht es nicht auch der Tradition - in der viele von uns, wir alle vielleicht stehen - der Tradition der abendländisch - europäischen Ausprägung unseres Denkens, der Tradition der sozialen Bewegung, der Tradition auch des Marxismus - das darf man ja durchaus heute wieder einmal sagen - der Tradition der ausgeprägten Vorstellung der sozialen Demokratie als Wert, entspricht es nicht auch dieser Tradition zu sagen: Macht Euch die Erde - ich variiere: die Ökosphäre - untertan?
Und entspricht es nicht auch dieser Tradition der Steigerung der Ef-fizienz, dem doppelten Wohlstand bei halbem Ressourcenverbrauch - sprich dem Faktor 4 das Wort zu reden? Statt vielleicht mal zu fragen, ob nicht der halbe Wohlstand - gerecht verteilt in dieser Welt - auch genug wäre? Statt vielleicht auch mal den Wohlstandsbegriff und die damit verbundenen Leitbilder unserer Gesellschaft zu hinterfragen?

Eine Westeuropäerin setzt pro Jahr etwa zehnmal soviel Primärenergie um wie eine Afrikanerin, ein US-Amerikaner etwa zwanzigmal soviel. Diese Zahlen gelten für 1996, trotz der weltweit akzeptierten und von 150 Vertragsstaaten unterzeichneten Verträge und Deklarationen der Weltklimakonferenzen von Toronto 1987, Rio de Janeiro 1992 und Berlin 1995.

Wir befinden uns im Jahr 1997. Öko ist out - Lifestyle ist in. Diese Kurzformel veranschaulicht die aktuelle Befindlichkeit der westerwelligen Besserverdienenden im Jahre 1997.

Öko ist out - Arbeitslosigkeit ist in. Diese Kurzformel gilt für die Mehrheit der Gesellschaft 1997.
Ich möchte dies zunächst mal nicht anklagen und mit dem gleichzeitig erhobenen Zeige-finger belehrend sagen: "Verhaltet Euch ökologisch!" so wie Pater Leppich seinerzeit rief: "Kehret um, tut Buße"! Diese Attitüde liegt mir fern; Appelle sind, zumal die mit moralisierendem Impetus, zum Scheitern verurteilt. Nein, ich möchte zunächst einmal ernst nehmen, daß die sozialen Fragen wie Massenarbeitslosigkeit, Hunger, Überbevölkerung und Kriege den Menschen dieser Weltgeneration wichtiger sind als die Ökologie der kommenden Generationen. Es bleibt zu konstatieren: Bis zur Nachhaltigkeit wird es noch ein weiter, schwieriger und steiniger Weg sein, vor diesem Hintergrund, angesichts der Ausgangsfrage und der bisher dargelegten Bewertung dieser Frage. Auch des-halb ein weiter Weg, weil wir hier und heute immer noch, auch nach zehn, ja nach zwanzig Jahren gezwungen sind, uns angesichts der genannten weltweiten dramatischen Entwicklungen zu fragen, ob wir uns trotz der sozialen Krise Öko noch leisten können.

In diesem Zusammenhang möchte ich ansprechen, daß mir hier wiederum Aspekte eines technokratischen Politikmodells begegnen, das auch mir persönlich als Ingenieur vertraut ist. Dieses Politikmodell, dieses Verständnis von Politik korrespondiert mit einem nach wie vor ungebro-chenen Planungsoptimismus, wie wir ihn bei den Eliten der westlichen sozialen Demokratien, speziell der deutschen Sozialdemokratie finden. Und das ist nicht nur meine Überzeugung, sondern findet sich an herausragender Stelle als Beleg.

Wir brauchen gar nicht weit zu suchen, bleiben wir als Beleg meiner Ausführungen zum technokratischen effizienzorientierten Politikmodell doch einfach einmal hier in Hessen:
Bereits der erste Hessenplan 1950 oder der sogenannte Großen Hessenplan 1965, dann der Landesentwicklungsplan "Hessen 80", der 1970 publiziert wurde, oder auch - nahtlos anschließend - die jetzigen Arbeiten, übrigens auch die des Öko-Institutes zum Thema Hessen 2010 sind Beispiele dafür, wie unser - und ich nehme mich da nicht aus - Politikverständnis häufig strukturiert ist.

Danach gehen wir davon aus, daß die gesellschaftliche Entwicklung für längere, mittelfristige Zeiträume planbar gemacht und die Bereitstellung finanzieller und organisatorischer Ressourcen effektiviert werden kann. In dieser technokratischen Orientierung - und ich zitiere aus der Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der hessischen SPD - in dieser Orientierung auf die Planbarkeit des ökonomischen und sozialen Fortschritts drückt sich ein technokratisches Politikmodell aus, für das die Lösung gesellschaftlicher Konfliktlagen vor allem eine Frage des richtigen, wissensbasierten Managements war.

Und weiter aus dieser Festschrift: "Infolgedessen überschneidet sich diese Vision einer um-fassenden Steuerung der Gesellschaft durch den Staat mit einem ungebrochenen Vertrauen in die ökonomische Dynamik neuer Technologien."

Vor diesem Hintergrund ist es selbst-verständlich nicht zufällig, daß die sozialen Fragen in Deutschland zur Standortfrage verkommen, ja daß landauf landab der Irrglaube zu finden ist, wir könnten den Grundwiderspruch zwischen den weltweit drängenden soziokulturellen Fragen und den sozialen Problemen einerseits und der allfällig vorzufindenden Herrschaftsstruktur, um es nicht drastischer zu formulieren, der Macht andererseits, wir könnten diesen Grundwiderspruch nach Gutsherrenart über die Ökonomie lösen.

Das, zumindest das können wir aus der Geschichte lernen, der Geschichte auch solcher regionaler und lokaler Institutionen wie des ÖkoBüros Hanau: Bei der Frage nach der Ökologie des Gemeinwesens handelt es sich um eine zutiefst politische Frage, die sich in der Machtfrage zuspitzt.
Bei der Beantwortung dieser Frage - der Machtfrage also - kann es im übrigen nicht um Politik im Sinne von Interessensausgleich zwischen A, B und C, also Ökonomie-, Sozial- und Umweltpolitik gehen, sondern es geht nach meiem Dafürhalten letztlich um die Strukturen dieser Macht, auf die ich im Verlauf dieser Ausführungen noch konkreter zurückkommen werde.

Zurück zunächst also zur Ausgangsfrage: Können wir uns trotz der sozialen Krise "Öko" noch leisten? Ist dies eine Frage des richtigen wissensbasierten Managements? Ist dies gar eine ökonomische Frage? Ich meine nein, denn völlig zu Recht geht die Frage von uns aus und lautet: Können wir uns trotz der sozialen Krise "Öko" noch leisten? Die Menschen stehen also zu Recht im Zentrum der Frage; die Menschen werden von den sozialen Bezügen, den ökologischen Anforderungen und - selbstverständlich - auch den ökonomischen Randbedingungen betroffen. Die Kritik - gerichtet an die Mächtigen in diesem Land - muß daher eindringlich lauten, daß die Menschen im Mittelpunkt zu stehen hätten und nicht etwa der Standort, und ich mag mich nicht darum streiten, ob es der Industrie- oder der Dienstleistungsstandort sei.

Denn der Ökosphäre der Erde, der hier vorhandenen Natur oder gar dem Kosmos, dem Universum ist es herzlich gleichgültig, ob die paar Menschlein da ökologisch, sozial oder ökonomisch leben, in welchem Zeithorizont da gedacht und gelebt wird, und ob die Menschen überhaupt leben oder vielleicht auch gar nicht. Denn vor wenigen Jahrtausenden noch war es hier sehr viel wärmer, dann auch wieder sehr viel kälter als heute und das wird auch - nach allem was wir ahnen - wieder so sein.

Vor zehntausend Jahren etwa war der Vulkanismus in der näheren Nachbarschaft - ich meine die Eifelvulkane - auf seinem Höhepunkt. Und wir wissen aus Erdbebenanalysen und Gasausbrüchen, daß dies jederzeit wieder auftreten kann. Das kollektive und das individuelle menschliche Gedächtnis sind aber im Vergleich zu den angesprochenen geologischen Horizonten sehr kurz.

Selbst die sogenannte Ölkrise 1974 oder die Katastrophe in Tschernobyl 1986 verschwinden im Zeithorizont des Verdrängens und Vergessens, wie wir sicher-lich alle an uns selbst feststellen können.

Gut, ich kann akzeptieren, daß wir nicht andauernd erinnert werden möchten an all die schrecklichen Dinge, die passieren könnten und im Grunde ständig ablaufen. Gerade ich selbst bin jemand, der nicht ständig mit Trauermiene rumläuft. Vielmehr stört mich eher der Anblick der zahlreichen deutschen bitteren Gesichter in den Fußgängerzonen und Konsumtempeln.

Was mich stört daran, ist die Tatsache, daß es speziell unserer Weltgeneration in den Industrieländern unglaublich gut geht. 60 % der US-Amerikaner haben Übergewicht, ca. 45 % der Deutschen. Wir bewegen uns zu wenig, essen, trinken und rau-chen zu viel, und: wir sind unzufrieden und sprechen von Krise. Krise des Standorts, Krise des Sozialstaats, Krise der Ökologie, Krise der Arbeitslosigkeit. Und viele zeigen in dieser Situation auf die hohe Politik, die ja schließlich im nachgewendeten Obrigkeitsstaat Deutschland zuständig zu sein hat für die Lösung der allgegenwärtigen Probleme.

Ich sage heute hier, zur Feier des 10-jährigen Bestehens des ÖkoBüros Hanau: Es kann uns doch nur darum gehen, daß wir uns um uns selbst kümmern und unser Schicksal in die gemeinsame eigene Hand nehmen! Wer mag denn noch glauben, die Lösung gesellschaftlicher Konfliktlagen sei vor allem ein Managementproblemfehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden.oder Oskar Rau, ob Gerhard Scharping oder Rudolf Schröder, ob Volker Fischer oder Joschka Rühe, ob Jürgen Schäuble oder Wolfgang Trittin oder wie die Männer da alle heißen mögen, wer immer auch nach der Wahl 1998 die Regierungsämter antreten wird, ohne zahlreiche vergleichbare Einrichtungen wie das ÖkoBüro Hanau und die tausend anderen Initiativen auf der Mikroebene wird sich wenig bis nichts zu unseren Gunsten ergeben.

Dies ist jetzt kein Aufruf, 1998 oder wann auch immer nicht zur Wahl zu gehen; ich bitte, mich nicht mißzuverstehen. Dies ist lediglich ein Bekenntnis zu uns selbst. Wir selbst sind diejenigen, die unsere Zukunft gestalten können.

Denn wir wissen genug - oder könnten es zumindest wissen - über unser eigenes Handeln als Individuen, in den Haushalten und Zusammenhängen, in denen wir leben. Die drängendsten Probleme der Dienstleistungsgesellschaft nehmen nämlich heute - anders als vor zehn oder gar zwanzig Jahren - in den privaten Haushalten ihren Ausgang. Vor zwanzig Jahren war es im wesentlichen die Industrie, welche die größten ökologischen Sünden begangen hat, zum Teil aus Nichtachtung, zum Teil aus Nichtwissen, zum größten Teil aber, weil es nichts kostete.

Diese Zeiten sind vorbei, weil die Energie-, Rohstoff- und Entsorgungskosten massiv gestiegen sind und die Betriebe allesamt - im Unterschied zu öffentlichen und privaten Haushalten - betriebswirt- schaftlich geführt werden.
Daher - und nur daher - wirkt zum Beispiel ein Verbraucherboykott. Im Zeitalter der globalisierten Dienstleistung kann kein Unternehmen dies so ohne weiteres hinnehmen, zunächst einmal aus ökonomischen Gründen, dann aber auch wegen des beträchtlichen Verlusts an Image (von außen gesehen) und Corporate Identity (von innen gesehen). Auch hier zeigt sich - so widersprüchlich dies zunächst klingt - ein kollektives Instrument individueller Kritik.

Individuelle Kritik ist übrigens auch, daß mir in den Energiezentralen hinter vorgehaltener Hand gelegentlich Zustimmung zu meinen atomkritischen Gutachten signalisiert wird, von Menschen, die als Stromfachleute etwa des RWE oder anderer Versorger an der Beratungsfront stehen. Die von den Soziologen beobachtete Individualisierung der Gesellschaft - ein oft und von vielen bedauertes Phänomen - kann also auch positiv gedeutet und über konkrete Initiativen nutzbar gemacht werden. Ein anderes Beispiel dafür ist das wachsende individuelle Unbehagen an gentechnisch erzeugten Lebensmitteln.

Zurück zu den Hauptverursachern ökologischer Probleme in den Neunzigern: Die Industrie ist also heute - im Unterschied zu 1977 und 1987 - längst nicht mehr Hauptverursacherin ökologischer Probleme. Vielmehr sind es die Individuen, die in ihren sozialen Strukturen (Haushalten, Wohnge- meinschaften, Lebensabschnittspartnerschaften, Familien usw.) leben:

privaten Haushalten sprechen eine deutliche Sprache, um nur wenige Beispiele zu nennen.
Dabei geht es mir überhaupt nicht darum, den Individuen und einzelnen privaten Haushalten auf der Mikroebene die Verantwortung für die Umweltfragen zuzuschieben, weil die zentralen Entscheidungen etwa über die Art und Weise der Energieerzeugung, der Wahl der Verkehrsmittel, der Lebensmittelversorgung oder der Müllentsorgung nicht handlungs- und wirkungsnah in den Haushalten selbst, sondern handlungs- und wirkungsfern in den Industrie- und Dienstleistungszentren getroffen werden. Dies scheint mir der zentrale strukturelle Punkt zu sein: Die wirklich wichtigen Entscheidungen fallen handlungs- und wirkungsfern. Damit bin ich - ausgehend von den Individuen - zurückgelangt zur zentralen Frage, zur Frage nach der Macht und ihren immanenten Strukturen.

Die Endverbraucherinnen und Endverbraucher sind frei, sagt das Grundgesetz. Frei - in der Wahl des Waschmittels, ob Knalli oder Hyper, ob flüssig oder trocken. Aber sie sind unfrei, gebunden - ohne Macht - an die Art und Weise von Entwicklung, Produktion, Distribution, Verpackung und Entsorgung der Konsumguts. Und sie sind den Paradigmen, den Leitbildern der Gesellschaft (meine Wäsche soll weiß sein, gut riechen und der Kalk geht nicht mal mit dem Schraubenzieher ab!) eher ausgesetzt, als daß sie diese aktiv gestalten.

Dieses Beispiel zeigt eins: Es kann und muß in Zukunft zunächst und weiterhin darum gehen, diese Handlungs- und Wirkungszusammenhänge aufzuzeigen. Es kann und muß darum gehen, täglich im politischen Sinn die Machtfrage zu stellen, indem auf der untersten, der Mikroebene - lokal - kommunal - regional - nachgefragt und gehandelt wird. Nur dadurch kann ernsthaft die ökologische Frage zunehmend mit der ökonomischen und sozialen Frage verknüpft werden.

Zur Verknüpfung der Ökologie mit der Arbeitsplatzfrage vielleicht ein kurzes Beispiel: das Beispiel des Öffentlicher Nahverkehrs.

Ich möchte uns ersparen, die jetzige Situation ausführlich zu beschreiben, weil das nicht neu ist. Wichtig allerdings ist mir der Hinweis, daß Nah- und Fernverkehr auch eine Beschäftigungs- komponente haben, zumal nach jahrzehntelanger autofreundlicher Politik das Bewußtsein für diesen an sich selbstverständlichen Sachverhalt abnimmt.

Um mich einmal wissenschaftlich auszudrücken: Wenn früher Mobilität erforderlich war, dann kaufte der Mensch Dienstleistung ein, in Form einer Fahrkarte. Diese Dienstleistung wurde sodann von Beschäftigten im Nah- und Fernverkehr erbracht, unmittelbar und mittelbar: unmittelbar die Busfahrer, Lokführer, Schaffnerinnen, Kontrolleurinnen, Reinigungskolonnen, Wartungs- und Instandhaltungsfachkräfte, Verkäuferinnen, Geschäftsführer und Direktorinnen; mittelbar die Hersteller der Fahrzeuge, der Ersatzteile, der Treib- und Hilfsstoffe.

Heute kauft der Mensch keine Dienstleistung mehr, sondern Energieträger in Form von Treibstoff an der Tankstelle. Anschließend bewegt er oder sie sich mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit in den Städten von ca. 8 - 15 km/h per Auto durch die Stadt, wobei die Hälfte aller zurückgelegten Wege kürzer als 5 km ist. Diejenigen, die früher im Nah- und Fernverkehr gearbeitet und dort ihre Dienstleistung für die anderen erbracht haben, sind heute arbeitslos.

Ich möchte nicht mit Zahlen und Statistiken langweilen. Nur soviel: von 1980 bis 1990 hat der private Autoverkehr in den Alten Bundesländern um fast genau den Betrag zugenommen, der mit dem Öffentlichen Nah- und Fernverkehr insgesamt abgewickelt wird (dieser blieb im genannten Zeitraum gleich).

Im Öffentlichen Nah- und Fernverkehr arbeiteten 1980 wie 1990 550.000 Menschen. Andererseits hängen etwa 1,8 Millionen Arbeitsplätze inzwischen vom Auto ab, direkt und indirekt einschließlich der zugehörigen Vorfertigungen, des Straßenbaus und der Tankstellen.

Aufgrund der Tatsache aber, daß die Dienstleistung des Gefahrenwerdens zugunsten des Selbstfahrens wegfällt, kann abgeschätzt werden, daß heute netto 250.000 Arbeitsplätze mehr vorhanden wären, wenn der Zuwachs beim Autoverkehr der letzten zehn Jahre statt dessen im Öffentlichen Nah- und Fernverkehr plaziert worden wäre.

Warum gibt es etwa in Deutschland keine flexiblen, möglichst nah am Bedarf orientierten Sammeltaxis, wie wir sie z. B. aus Afrika, dem Orient oder Fernost kennen? Die Antwort überlasse ich Ihnen.

Und ein anderer Hinweis: Auch eine dezentrale Strom- und Wärmeversorgung würde etwa 250.000 zusätzliche Arbeitsplätze schaffen, so jedenfalls die Ergebnisse einschlägiger Studien.

Ich mag mich nicht darum streiten, ob diese Zahlen optimistisch, realistisch oder pessimistisch abgeschätzt sind. Tatsache ist, daß die Befriedigung kollektiver Bedürfnisse - Ernährung, Wohnen, Energie, Mobilität - eine der zentralen volkswirtschaftlichen Aufgaben darstellt, mit großer ökologischer Wirkung und beträchtlichen sozialen Folgen.

An dieser Stelle höre ich schon den bedauernden Hinweis, daß dezentrale Energieversorgung ebenso wie flächen- und zeitdeckende Mobilitätsversorgung nicht bezahlbar seien. Wie wir inzwischen wissen, ist das Gegenteil richtig. Selbstverständlich wäre eine dezentrale gekoppelte Strom- und Wärmeversorgung bei den Strom- und Wärmekosten teurer. Ja, und?

Was aber kosten 250.000 nicht vorhandene Arbeitsplätze? Welche Kosten entstehen durch Verkehrsunfälle in den Krankenversicherungen? Wieviel bezahlt die Volkswirtschaft für die schlechte Ausbeute der großen stromerzeugenden Kraftwerke, wieviel kosten Treibhauseffekt, nukleare Entsorgung oder Waldsterben?

Die Tatsache allerdings, daß diese Kosten in aller Regel aus den Betriebswirtschaften in die Volkswirtschaft externalisiert werden, zum Profit eben der Betriebswirtschaften, ist in diesem Zusammenhang deutlich hervorzuheben. Daher müssen die Bestrebungen zur Umkehrung dieser Entwicklung - ökologische Steuerreform, adäquate Energie- und Entsorgungspreise - vorange- trieben werden.

Diese wenigen Hinweise mögen genügen, heute - 1997 - nicht nur die zunehmende Verträglichkeit von Ökonomie und Ökologie festzustellen - ein Aspekt von Entwicklung, der übrigens bei vielen großen Firmen (Sandoz, Ciba, BASF, Bayer, Hoechst, Henkel - um nur einige Namen zu nennen) völlig unbestritten ist. Nein, heute kann mit guten Gründen konstatiert werden, daß auch die große soziale Frage - die Arbeitslosigkeit von offiziell 4 bis 5, verdeckt 6 bis 8 Millionen Menschen in diesem Land - gemildert werden könnte, wenn nur die ökologischen Probleme ernsthaft angegangen würden.

Eine Diplomandin an meinem Institut hat einmal zur Pointierung der gestellten Frage ausgerechnet, wenn der Staat - also wir alle - jedem privaten Haushalt innerhalb von fünf Jahren einen neuen Kühlschrank schenken würde, gegen Entsorgungsnachweis des alten selbstverständlich, dann würden sich drei Effekte ergeben:

Dieses Szenario ist beschäftigungswirksam, ohne Zweifel. Manche kalkulieren daraus die Sicherung von 200.000 Arbeitsplätzen über fünf Jahre. Und wenn es 100.000 Arbeitslose weniger wären, wäre schon viel gewonnen.

Deshalb - und damit möchte ich zum Schluß meiner Ausführungen kommen - ist für mich außer Zweifel, daß die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie in den letzten zehn Jahren im Kern längst auf dem Weg ist, wenn auch viele dies nur hinter vorgehaltener Hand zugeben würden. In den nächsten zehn Jahren wird es darum gehen, die hoffnungsvollen Ansätze der Versöhnung der sozialen mit der ökologischen Frage weiter zu entwickeln, gemeinsam mit allen Akteuren im sozialen Bereich.

Allerdings sei deutlich darauf hingewiesen, daß die laufende Effizienzstrategie letztlich die vorhandenen Strukturen verfestigt und deren Überleben sichern soll. Völlig zu Recht beschreiben die US-Wissenschaftler David Schoenbaum und Elizabeth Pond in ihrem Buch: "Annäherung an Deutschland" aus externer Sicht ziemlich fassungslos "die offensichtliche Unfähigkeit der Deutschen, die Zukunft anders denn als Verlängerung der Gegenwart zu sehen". Die Gründe dafür - so heißt es - lägen "im deutschen Korporativismus, der ziemlich verläßlich dafür sorge, daß das Bestehende bestehenbleibt." Wenn man so will, so beschreibt dies sehr treffend das deutsche System, unabhängig übrigens von Kohl oder Schröder. Also noch einmal: Die gestellte Ausgangsfrage ist letztlich die Frage nach der Macht und ihren bestehenden Strukturen. Lokalisierung von Verantwortlichkeit, Öffentlichkeit bei der Entscheidungsfindung und Transparenz des Handelns sind erforderlich, individuell wie auch gesellschaftlich, wenn neben der sicherlich notwendigen Effizienzstrategie auch Anstrengungen im Hinblick auf Paradigmenentwicklung, im Hinblick auf Veränderung der Leitbilder der Gesellschaft unternommen werden und nachhaltig erfolgreich sein wollen.

Kurzfristig, sozusagen als Extrapolation aus der Vergangenheit, ist die aktuelle Effizienzstrategie sinnvoll und notwendig, aber nicht hinreichend zur Beantwortung der Widersprüche der gestellten Ausgangsfrage. Langfristig muß es um die Leitbildentwicklung dieser Gesellschaft gehen; und das bedeutet, auch im hier dargelegten Sinn die Machtfrage zu stellen.



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