Chinas Tibetpolitik heute
Ein Kampf auf Leben und Tod zur Zerschlagung einer alten Kultur

Vom 20. bis 23. Juli 1994 veranstaltete Peking das "Dritte Forum über die Arbeit in Tibet", das die totale Zerstörung einer ganzen Kultur empfahl, die Tausende von Jahren auf dem tibetischen Hochland blühte. Dieses "Kulturreich" umfasste einst so weit auseinander gelegene Gebiete wie Buriatien, Tuva und Kalmückien in Russland; die Mongolei; Ladakh, Lahaul-Spiti, Sikkim und Arunachal Pradesh in Indien; Mustang, Dolpo und Solo Khumbu in Nepal; Bhutan und Teile von Westchina. Die 1994 in Peking ausgearbeitete Politik - die dieser Tage mit dem Eifer der Kulturrevolution in Tibet verfolgt wird - bedeutet letztendlich die totale Vernichtung der spirituellen Heimat dieser allen gemeinsamen Kultur. Die Durchführung der Beschlüsse des "Dritten Arbeitsforums" wirkt sich daher auch lähmend auf die traditionelle Kultur von Millionen von Nicht-Tibetern aus, weil die Quelle ihrer kulturellen Inspiration nun gewaltsam zum Versiegen gebracht wird, und es nichts mehr gibt, um das Reservoir dieser besonderen und hoch entwickelten Zivilisation wiederaufzufüllen.

Verlust der Herzen und Gemüter

Die bei dem Dritten Arbeitsforum getroffenen Entscheidungen beruhen auf zwei grundlegenden Schlussfolgerungen, die von Peking gezogen wurden. China erkannte allmählich, dass es dabei ist, auf zwei lebenswichtigen Gebieten zu verlieren: dem der Ideologie und dem der Propaganda. Für einen Staat, der seine Existenz durch seine ideologische Überlegenheit und die Macht seiner Propaganda, durch die er das Denken seiner Untertanen formt, zu rechtfertigen pflegt, waren die Auswirkungen, die dies auf die Zukunft haben würde, bestenfalls ungewiss, schlimmstenfalls gefährlich. Peking schloss, dass es den ideologischen Krieg verlieren würde, da die Tibeter trotz der unerbittlichen Attacke gegen den tibetischen Buddhismus so treu wie eh und je an ihren traditionellen Glaubensformen festhalten. Peking gelang es zwar, das Land als solches materiell zu versklaven, aber die Herzen, die Gemüter und die Loyalität des tibetischen Volkes hat es nicht erobert.
Die von der Militärmacht Chinas aufoktroyierte kommunistische Ideologie schlug keine Bresche in das Herz des Buddhismus. Dazu kam noch die große Ratlosigkeit der kommunistischen Hierarchie angesichts der Politik der Gewaltlosigkeit, die dem von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama befürworteten Mittleren Wege zur Lösung der Frage des zukünftigen Status Tibets zugrunde liegt. Für ein Regime, das sich auf Maos Diktum*) "politische Macht kommt aus dem Gewehrlauf" gründet, ist diese vermeintlich exzentrische Philosophie, wonach der Sieg darin liegt, die Herzen und Gemüter des Volkes durch die Macht von Ideen zu gewinnen und nicht im Töten mit der Feuerwaffe, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Gründe für die neue Politik der harten Linie Pekings sind in übereilter Reaktion und Überraschung über die neue Politik der Annäherung Seiner Heiligkeit des Dalai Lama zu suchen. Peking argwöhnte, es wäre dabei, den Propaganda-Krieg zu verlieren, weil die Medien der Welt und ihre Pop-Kultur aus dem einen oder anderen Grund - zumindest für den Augenblick - in Tibet und dem tibetischen Buddhismus so etwas wir ihre "Knuddelpandas" sahen.
Trotz seiner Finanzkraft stellte China fest, dass es extrem schwierig war, dieses Bild Tibets auszurotten und seiner Stimme auf der internationalen Medienbühne zur Tibetfrage Gehör zu verschaffen. Um diese Schwachpunkte in den Griff zu bekommen, konzentrierte sich das Dritte Arbeitsforum vor allem auf zwei Dinge. Das erste war, sich der wirtschaftlichen Entwicklung Tibets zu widmen, in der Hoffnung, dass damit die Demonstrationen der Tibeter auf den Straßen aufhören würden. Dies lief darauf hinaus, die Tibeter mit dem Versprechen zu kaufen, dass sie reich würden, wenn sie sich der Parteilinie unterwürfen. Das andere Anliegen war, die neuen und zukünftigen Generationen von Tibetern für den chinesischen Standpunkt zu gewinnen.
Peking hat die Gleichschaltung der jetzigen Generation von Tibetern als eine aussichtslose Sache aufgegeben. Wenn nun auch noch die kommenden Generationen von Tibetern an die "Dalai Clique" verloren gingen, dann hätte dies gefährliche Folgen für die chinesische Herrschaft in Tibet, schlossen die Chinesen. Die dramatische Flucht des 15-jährigen Gyalwa Karmapa aus Tibet im Januar 2000 verstanden die Pekinger Politiker als eine Warnung über die schwindende Loyalität zu China. Die Flucht des Karmapa und die einige Zeit zuvor erfolgte von Agya Rinpoche, dem Abt des Klosters Kumbum, war sehr peinlich für China, weil diese beiden hohen Lamas den Chinesen als ein Unterpfand für die Legitimation ihrer Herrschaft in Tibet dienten. Das ist auch der Grund, warum Peking nun mit solcher Vehemenz die Befolgung seiner Verordnung von 1993 über die Rückholung junger Tibeter, die in Schulen und Klöstern unter der Exilregierung in Indien studieren, fordert. Und ebenso stehen diese Überlegungen hinter der Schließung von privaten Schulen in Tibet. All dem ist zuzuschreiben, dass sich Tibet heutzutage inmitten einer zweiten Kulturrevolution befindet, während die Chinesen effektivere langfristige Strategien zur Ausrottung der distinktiven kulturellen und ethnischen Identität der Tibeter ersinnen.

Die Obrigkeit verfolgt eine viergleisige Strategie zur Erreichung ihres Endzieles. Sie verstärkt die Unterdrückung, während sie gleichzeitig ihre riesige Propagandamaschinerie einsetzt, um ein rosiges Bild von Tibet zu malen. Sie beschleunigt das Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung, um den tibetischen Nationalismus zu ersticken und bringt gleichzeitig mehr chinesische Siedler in das tibetische Hochland, um die demographische Zusammensetzung Tibets zu verändern und die soziale Spannung infolge steigender Arbeitslosigkeit zuhause in China zu beruhigen. Das Dritte Arbeitsforum für Tibet wurde von der Spitze der chinesischen Führung einberufen und tagte unter dem Vorsitz von Präsident Jiang Zemin. Die Behörden blicken nun zu diesem Arbeitsforum als der "wichtigsten strategischen Politik zur Verjüngung Tibets" auf und preisen seine Richtlinien als ein neues "Manifest" für die Arbeit der Partei auf dem tibetischen Plateau.
Die Bedeutung des Dritten Arbeitsforums besteht darin, dass es die liberaleren politischen Richtlinien, die vom Ersten und Zweiten Arbeitsforum 1980 und 1984 festgelegt wurden, umwarfen. Die ersten zwei Arbeitsforen wurden von dem verstorbenen Hu Yaobang, dem damaligen Generalsekretär der KPCh (Kommuni-stischen Partei Chinas) initiiert. Diesem liberalen und etwas von der Parteilinie abweichenden Politiker kommt der Verdienst zu, der führende Kopf hinter einer Reihe von Maßnahmen zur Besserung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lage in Tibet gewesen zu sein.

Dieses kurze Intermezzo der Liberalisierung verbesserte merklich die Lebensbedingungen der meisten Tibeter und entspannte ein wenig das intellektuelle und soziale Klima. Das Dritte Arbeitsforum stieß diese Politik jedoch um, und es kamen wieder die Hardliner zum Zug, unter deren krasser Politik Tibet bis heute schwer gebückt geht. Tibeter in Tibet empfinden die derzeitige repressive Politik als eine zweite Kulturrevolution. Die Frage ist, warum China wählte, seine frühere liberalere Politik über Bord zu werfen und ein Parteiprogramm zu verabschieden, das zur systematischen Zerstörung der eigenständigen Kultur Tibets führt. Die Antwort liegt in innerchinesischen und internationalen Ereignissen, die China veranlassten, eine Reihe von Hardliner-Beschlüssen für Tibet zu formulieren, die sich allmählich zum Dritten Arbeitsforum über Tibet verdichteten. China empfand die Welt, der es Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre gegenüberstand, als eine bedrohliche.

Ab 1987 wurde Tibet von einer Serie von Protestdemonstrationen erschüttert, welche die Unabhängigkeit Tibets forderten. Eine der größten Demonstrationen, die am 5. März 1989 in Lhasa stattfand, trieb den Staat dazu, das Kriegsrecht über die Stadt zu verhängen. Diese Demonstrationen werden jetzt von Historikern als Auslöser für den Ausbruch der Erhebungen chinesischer Studenten für die Demokratie angesehen. Die Politiker jedoch hielten die Serie der Demonstrationen auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ für ein Zeichen dafür, dass ihre Zentralregierung die Macht verlöre, und um die Oberherrschaft wieder zu gewinnen, metzelten sie am 4. Juni 1989 Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Studenten nieder. Diese Demonstrationen waren eine bedrückende Wiederholung der Studentenerhebungen vom 4. Mai 1919 in Peking, die damals ein politisches und kulturelles Erwachen im einstmaligen Reich der Mitte signalisierten. Pekings Angst, die Kontrolle zu verlieren, wurde noch durch auswärtige Ereignisse verschlimmert, welche die kommunistische Welt zum Einsturz brachten. Die Solidarnosz in Polen, der Fall der Berliner Mauer und der Zusammenbruch der Sowjetunion nährten Pekings Paranoia, der Machteinfluss der KPCh könnte bedroht sein.
Offizielle chinesische Befürchtungen wurden weiter angeheizt durch die sich rasch wandelnde Haltung der breiten Massen, die vom Kommunismus zu ihren traditionellen Glaubensformen wie dem Konfuzianismus, Buddhismus, Islam, Christentum und den einheimischen Volkskulten zurückkehrten. In den Augen der Durchschnittsbürger geriet der Kommunismus gänzlich in Misskredit, und das war mehr als alles andere der größte Alptraum für die chinesische Führung. In den Augen der Volksmasse hatte die Führung ihre Rechtfertigung, an der Macht zu bleiben, verloren. Für eine Ein-Parteien-Diktatur markiert dies historisch gesehen den ersten Schritt auf der rutschigen Straße zu Auflösung und Machtverlust.

All dies veranlasste die chinesische Führung, zu ihrer früheren Überzeugung zurückzukehren, die traditionellen religiösen Glaubensformen seien ihr eigentlicher Feind. Im Wettstreit mit Buddhismus, Konfuzianismus, Islam, Christentum und anderen "Ismen" erwies sich der Kommunismus als Verlierer, wenn es darum ging, sich die Loyalität und Ergebenheit der Massen zu bewahren. Die politische Führung kramte die alten Platitüden hervor, die einst dem tibetischen Volk serviert wurden, um ihre Politik der Zerstörung des tibetischen Buddhismus während der Kulturrevolution zu rechtfertigen. Verdutzten Tibetern wurde damals erklärt, dass genauso, wie es keine zwei Sonnen am Himmel geben könne, auch Buddhismus und Sozialismus nicht nebeneinander in Tibet existieren könnten. Zwangsläufig musste damals der Buddhismus dem Sozialismus das Feld räumen. Und heute wird wieder die Religion ganz offen und unverfroren zu einem Werkzeug der chinesischen Staatsmacht umfunktioniert.

Dies waren die Ängste der chinesischen Führer, als sie 1994 in Peking zusammentraten, um ihre neuen Tibet Initiativen auszuarbeiten. Für die Chinesen ist Tibet ein ganz besonders heikles Thema wegen ihrer Überzeugung, feindliche westliche Kräfte würden die Tibetfrage benützen, um China zu "verwestlichen" und somit seine territoriale Zerstückelung bezwecken. Chinesische Politiker der dritten Generation kamen zu dem Schluss, dass Stabilität in Tibet von ausschlaggebender Bedeutung für die Stabilität in China als ganzem ist. Früher kam Tibet für die lebenswichtigen Interessen von Chinas gigantischem kommunistischen Imperium nur eine nebensächliche Bedeutung zu. Bei dem Dritten Arbeitsforum sagten die Staatsführer nun aber: "Wir müssen deutlich begreifen, dass wir unsere Arbeit in Tibet nicht nur um der Stabilität und des Fortschritts unserer eigenen Region willen, nicht nur für die Interessen unserer Leute tun müssen, sondern um der Stabilität und Entwicklung der ganzen Nation willen".

In Tibet sah sich China wegen der dem tibetischen Buddhismus eigenen inneren Stärke und der Tiefe der Hingabe des Volkes an Seine Heiligkeit den Dalai Lama mit besonderen Problemen konfrontiert. Das ungedämpfte Aufkeimen religiöser Gefühle, das der kurzen Periode der Liberalisierung in Tibet folgte, bestätigte die schlimmsten Befürchtungen der chinesischen Führung, dass Jahrzehnte des geballten Ansturms auf die tibetische Kultur und Religion die traditionellen religiösen Überzeugungen und Werte des Volkes nicht auszulöschen vermochten. Maß die chinesische Führung bisher dem tibetischen Buddhismus nur den Stellenwert von einem lästigen Ärgernis bei, so fing sie nun an, diesen als eine sehr reale und unmittelbare Bedrohung für die Stabilität der chinesischen Herrschaft in Tibet zu betrachten. Gleichzeitig änderte sich auch die Haltung der chinesischen Führung Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama gegenüber. Von einem vagen Verbündeten im Friedensprozess in Sachen Tibet, welcher er bisher für die chinesische Führung gewesen war, wurde er nun zu einem "ausgewach-senen Feind" für sie.

Eine geheime Sitzung auf höchster Ebene, die am 10. März 1993 in Peking abgehalten wurde, kam zu dem Schluss, dass "es innerhalb der Dalai Clique verschiedene Fraktionen gebe, die sich jedoch in ihrem politischen Charakter und ihrer grundlegenden Position einig sind. Sie unterscheiden sich voneinander in ideologischen Standpunkten und der Art, wie sie diese zum Ausdruck bringen. Verschiedene Strategien müssen nun angewandt werden, um uns ihre Differenzen zunutze zu machen: Wir müssen auf unterschiedliche Weise mit ihnen umgehen, um sie zu spalten und zu zerstören" .

Wiederholt beschrieben hohe chinesische Staatsbeamte den Kampf gegen das "Spaltertum" - ihre offizielle Bezeichnung für die tibetische Unabhängigkeit - als einen "Kampf auf Leben und Tod". Bei der Jahresversammlung 1994 des Parteikomitees der KPCh, wo die Mitarbeiter über die politischen Initiativen des Dritten Arbeitsforums zu Tibet unterrichtet wurden, erklärte Raidi, der Vizesekretär des Parteikomitees: "Bis zum heutigen Zeitpunkt hat sich seine (des Dalai Lamas) Haltung zu der Frage der Unabhängigkeit Tibets niemals geändert, und wir müssen jetzt sein wahres Doppelgesicht aufdecken. Der Brennpunkt im Kampf gegen den Separatismus in unserer Region ist der Widerstand gegen die Dalai Clique. Wie die Redensart sagt: Um eine Schlange zu töten, muss man zuerst ihren Kopf abhauen". Kurz gesagt, das Dritte Arbeitsforum beschloss, dass Peking sehr wohl in der Lage sei, die Tibet-Frage ohne die Beteiligung des Dalai Lama zu lösen. Es gab damit die frühere liberale Politik auf, den Dalai Lama in irgendeine Lösung für den Status von Tibet mit einzubeziehen. Seine Heiligkeit der Dalai Lama wurde klipp und klar als die Grundursache für Chinas Tibet-Problem bezeichnet.

Das Dritte Arbeitsforum kehrte sich auch von der bisherigen Politik ab, Tibet wegen der "besonderen Gegebenheiten" des Hochlandes Konzessionen zu gewähren. Diese Politik war nämlich der Eckstein der Empfehlungen des Ersten und des Zweiten Arbeitsforums zu Tibet gewesen. Zur Durchführung seiner neuen Hardliner-Politik in Tibet machte Peking 1992 Chen Kuiyuan zum Sekretär des Parteikomitees. Diese Ernennung Chen Kuiyuans ist insofern bedeutsam, als er Karriere als ein strenger und hartherziger Administrator gemacht hatte. Er fungierte bereits als Erster Sekretär der KPCh in der Inneren Mongolei und hat die zweifelhafte Ehre, die rebellischen Mongolen, bei denen er als der "Schlächter" berüchtigt ist, zur Strecke gebracht zu haben. Chen Kuiyuan wurde eigens von Hu Jintao, dem derzeitigen Vizepräsident Chinas, der damals der Erste Sekretär der KPCh in Tibet war, für diesen Posten empfohlen.

Verlautbarung der tibetischen Exilregierung in Dharamsala, Übersetzung aus dem Englischen: Jürgen Thierack


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