Haus Tao II
Marcel Geisser:
Die Vielfalt der Sanghen

Spätherbst. Einer der letzten Föhntage hier in Niederösterreich. Ich schreibe diese Zeilen während eines Retreats im Buddhistischen Zentrum Scheibbs. Es ist Teil meiner Arbeit als Dharmalehrer, die verschiedenen Sanghen zu besuchen und sie auf ihrem Weg zu begleiten. Weltweit betrachtet, sind die Sanghen so verschieden wie die Menschen selbst. Einige versuchen, Plum Village nicht nur als Vorbild zu nehmen, sondern es möglichst genau zu kopieren. Andere sind kaum mehr erkennbar unserer Tradition zugehörig.
Im Haus Tao gehen wir seit Jahren wenn immer möglich so etwas wie den mittleren Weg. Vor über 30 Jahren begann meine Praxis der Meditation im japanischen Zen und insbesondere auch in der Vipassana Tradition. Da wurde zwar immer von den Drei Juwelen gesprochen, faktisch existierte aber nur das Dharma und die Meditationstechnik. Thây gab der Sangha wieder ihren Platz zurück. Ich sage bewusst "wieder", denn ich bin mir sicher, dass dies in der langen buddhistischen Geschichte schon öfters geschah. Nicht nur die Menschen, die ganze Natur hat ein tief innewohnendes Bedürfnis nach Gleichgewicht, nach Harmonie. Wir versuchen immer wieder, einen Ausgleich zu schaffen, das, was in den Hintergrund oder in Vergessenheit geraten ist, wieder hervorzuholen, wieder zu betonen. Wenn wir lehren, können wir nicht ständig alles gleichzeitig sagen. Sogleich entsteht im aufmerksamen Zuhörer der Drang, das Vergessene anzusprechen und so beginnen häufig die Diskussionen mit dem Wort „aber“. Als ich an all die Sanghen dachte, die ich kenne, kam mir zuerst das Bild einer Zwiebel mit all den einzelnen Schalen und Schichten. Bald war mir aber klar, dass dies wieder einmal mehr ein traditionell-hierarchisches Bild ist und mir der Vergleich eines Gartens mit all den verschiedenen Blumen und Gemüsesorten doch weit sympathischer ist. Da hat jedes seinen Platz, seine Aufgabe, seine Einzigartigkeit, seine Schönheit und Würde. So gab und gibt es für mich niemals nur ein einziges Sanghamodell. Das Leben ist viel zu dynamisch, ständig in Bewegung und Veränderung. Teile fügen sich zusammen, streben wieder auseinander und bilden neue Formen. Wenn wir das verhindern wollen, aus Angst vor Auflösung oder aus dem Wunsch, Großes zu erschaffen, vergewaltigen wir früher oder später die Freiheit der Wesen und die natürliche Gesetzmäßigkeit des Lebens. Eine buddhistische Sangha hat die Aufgabe, das Herz von Buddhas Lehre zu praktizieren und zu erhalten. Gleichzeitig darf sie ihr ganz persönliches Profil erarbeiten. Inspiriert durch die 14 Übungen der Achtsamkeit des Ordens Intersein habe ich versucht, die Chancen und Gefahren des spirituellen Weges für den Einzelnen wie auch für die Sangha zu formulieren. Daraus entstanden die Neun Pfeiler der Sati-Zen-Sangha vom Haus Tao, der Zen Sangha der Achtsamkeit:

Die Neun Pfeiler der Sati-Zen-Sangha
Die 9 Pfeiler sind die Grundlage und Praxis der Sati-Zen-Sangha. Betrachtet diese Übungen der Achtsamkeit als Polarstern, der uns die Richtung weist, und vermeidet Perfektionismus und Intoleranz. Sie sind nicht isoliert zu betrachten. Sie sind verwoben mit den Fünf Ethischen Grundlagen, den Vier Edlen Wahrheiten und dem Achtfachen Pfad.
1. Wahrheit
Binde dich nicht an Lehrmeinungen, Theorien oder Ideologien. Alle Denksysteme und Religionen sind nur Orientierungshilfen; sie sind nicht die absolute Wahrheit. Suche nach der Wahrheit im Leben und nicht nur in begrifflichem Wissen. Vermeide Missionseifer, als Einzelperson und als Gemeinschaft.
2. Einfachheit
Mache Liebe und Weisheit zu deinem wahren Lebensziel und nicht Macht, Reichtum, Ruhm oder sinnliches Vergnügen. Lebe auf einfache Weise und teile deine Zeit, deine Kraft und deine materiellen Mittel mit denen, die sie brauchen. Verzichte auf leere Rituale und betreibe keinen Personenkult.
3. Freiheit
Strebe nach wahrer Freiheit und Echtheit. Gebe dir und anderen den nötigen Raum zur Entfaltung und ein Klima der Offenheit und Weite. Erkenne, dass Anhaften Leiden bringt und suche nach der Ursache deines Leidens in deinem eigenen Geist.
4. Gleichheit
Begegne jedem Wesen mit liebevollem Respekt, denn jedes ist auf einzigartige Weise Ausdruck des Absoluten. Erfolg und Misserfolg sind keine Gradmesser für spirituelles Wachstum. Betrachte die Wellen von Lob und Tadel, Gewinn und Verlust mit Gleichmut und als Herausforderung zum Loslassen.
5. Mut
Habe Mut zur Veränderung. Schritte zu wahrer Transformation erfordern manchmal großes Risiko und die Bereitschaft, bekannte Kreisläufe zu verlassen. Vermeide dabei Engstirnigkeit und Gewalt. Lerne mit schwierigen Emotionen umzugehen und sie auszuhalten, ohne von ihnen versklavt zu werden.
6. Verstehen
Versuche deine Mitmenschen wirklich zu verstehen. Gib denen, die dir nahe sind, Einblick in deine innere Welt. Bemühe dich um Versöhnung und Lösung aller Konflikte. Lerne dir und andern zu verzeihen und suche nach Liebe und nicht nach Abhängigkeit. Schaffe nicht unnötiges Leiden und Trennung durch einen Mangel an Kommunikation.
7. Mitgefühl
Bleibe in Berührung mit dem Leiden in der Welt. Lass es nicht zu, dass dein Bewusstsein für die Existenz des Leidens abstumpft. Erkenne die Verbundenheit mit allen Wesen und suche nach Mitteln und Wegen, dich für das Wohl anderer und zur Verminderung von Leiden zu engagieren.
8. Offenheit
Sei dir bewusst, dass Methoden, Institutionen und Hierarchien immer nur Hilfsmittel sind und nicht Selbstzweck werden sollen. Lerne, sorgsam und verantwortungsvoll mit Macht umzugehen und sei bereit, sie abzugeben und mit anderen zu teilen.
9. Praxis
Verliere dich nicht in Zerstreuung. Dein tägliches Leben ist der Ort der Praxis der Achtsamkeit - von Moment zu Moment. Bleibe in Berührung mit dem, was in dir und um dich herum heilend, erfrischend und voller Wunder ist. Lass die Keime der Freude, des Friedens und des Verstehens in dir wachsen, um in den Tiefen deines Bewusstseins den Prozess der Umwandlung zu fördern.
 



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