Ein weiches Herz bewahren

Jonathan Porritt

Jonathan Porritt, ein führender englischer Umweltschützer, macht uns mit einigen herausfordernden Gedanken über geistige Werte, Erziehung und Politik bekannt.



Jonathan Porritt war viele Jahre ein führender Sprecher der grünen Bewegung in Eng-land. Neun Jahre lang war er Lehrer an einer Londoner Schule, bevor er Mitvorsitzender der Grünen Partei (GP) und Direktor der "Freunde der Erde" in Großbritannien wurde. Er ist Autor mehrerer Umwelt-Bücher, darunter "Save the Earth and Seeing Green". Gegenwärtig setzt er sich aktiv für die Förde-rung der Umwelt-Erziehung ein.

Ich denke, es ist keine Übertreibung zu be-haupten, dass die Zukunft der Menschheit davon abhängt, wie wir heute die jungen Leute erziehen. Meine Generation kommt nur taumelnd, ganz allmählich und schritt-weise mit den die Erde zerstörenden Prinzipien und Methoden klar, an die wir uns seit Jahrhunderten gewöhnt haben. Aber im Grunde bleibt es für die Mehrheit der politi-schen Entscheidungsträger unglaublich schwierig, mit etwas anderem klarzukommen als mit einem kleinen grünen Herumflicken an den Rändern. Und vieles davon geht auf den unablässigen Druck von Umweltschützern zurück, die aus solchen Entscheidungsprozessen herausholen, was sie nur können.

Ein Teil unserer Zukunfts-Hoffnung muss es daher sein, dass die nächste Generation viel intuitiver und natürlicher die Wichtigkeit akzeptiert, unser gesamtes Handeln das ökonomische, kulturelle, soziale, künstleri-sche, philosophische und religiöse auf einer äußerst vernünftigen und gründlichen Um-welt-Ethik aufzubauen. Und der Schlüssel und Ausgangspunkt dafür muss eine Art von Fähigkeit sein, Umwelt lesen und schreiben zu können. Ich werde hier aber nicht in die Details irgendeines speziellen Umwelt-Plans gehen und dabei den üblichen Katalog der Düsternis beiseite lassen. Stattdessen habe ich vor, die Möglichkeiten zu betrachten, mit denen unser neu erworbenes Wissen über die Umwelt-Belastungen die Systeme und Methoden zu beeinflussen beginnt, auf die wir mit Rücksicht auf gute Entscheidungen angewiesen sind.

Kürzlich wurde ich durch eine Notiz in einer Zeitung auf eine Initiative von John Gummer, unseren Umwelt-Minister verwiesen, der dem Premierminister offenbar einen Brief geschrieben hatte und darin ausführte, dass jener für die G 7Konferenz im Fernen Osten eine überaus wichtige Botschaft mitnehmen sollte: dass die Welt an der Schwelle von dramatischen Nahrungsmittelkürzungen steht, die in den nächsten 10 bis 20 Jahren noch schlimmer werden, und dass wir, wenn die jungen Industrienationen in Südostasien diese Tatsache jetzt nicht berücksichtigen, in relativ kurzer Zeit auf eine sehr dramatische und schmerzhafte Mauer stoßen werden.

Gerade vor wenigen Tagen traf ich zufällig den Mann hinter diesem ziemlich dramati-schen Hinweis von John Gummer, nämlich Lester Brown vom Worldwatch Institute in Washington, der ein neues Buch mit dem Titel "Who will feed China" ("Wer wird China ernähren") geschrieben hat. Ich muss sagen, dieses Buch schockiert zutiefst. Selbst diejenigen, welche daran gewöhnt sind, grüne Rhetorik wahrzunehmen, werden darüber außer sich sein, was dieses Buch aufzeigt. Es macht nicht irgendwelche ein-deutigen Voraussagen, sondern es zeigt die Konsequenzen dessen auf, was aktuell in China passiert.

Lassen Sie mich einen kleinen Geschmack davon geben: es geht um den Konsum von Eiern. Die Bürger Englands verzehren durchschnittlich 232 Eier in einem Jahr, nicht nur direkt als gekochte Eier, Spiegeleier, Rührei und so weiter, sondern auch indirekt, in Keksen, Kuchen usw. Der Durchschnittskonsum von Eiern in China beträgt 100 pro Jahr. Im Rahmen einer staatlich organisierten, sehr erfolgreichen kapitalistischen Wirtschaft haben die chinesischen Führer geglaubt, dass es für das chinesische Volk irgendwie unpassend ist, nur 100 Eier im Jahr zu essen, während die Menschen in England 232 Eier jährlich verzehren. Also haben sie das Ziel eines Eierkonsums von 200 pro Person und Jahr angepeilt. Wie man sich vorstellen kann, ist die Verdopplung des Eierkonsums einer Bevölkerung von 1,3 Milliarden eine sehr ernsthafte Verpflich-tung, und Lester Brown hat sich die Mühe gemacht auszurechnen, was dieses Vorhaben hinsichtlich der notwendigen zusätzlichen Getreideproduktion bedeutet.

Er hat berechnet, dass, wenn alle Extra-Hühner mit Getreide gefüttert werden, die erforderliche Menge von Extrafutter im Jahr 2000 dem gesamten jährlichen Getreide-Export von Australien entsprechen würde. Nun steht Australien an fünfter Stelle der Getreide exportierenden Länder der Erde. Bloß um es China zu gestatten, dieses relativ kleine Ernährungsziel zu erreichen und sie haben noch zahlreiche andere Ziele in ihren Zukunftsplänen, würde also bedeuten, das gesamte Exportvolumen von Australien dafür aufzuwenden.

Ich denke, dass Lester Brown uns aufzuwecken versucht. Wir haben die Schreckens-Nachrichten der 60er und 70er Jahre irgend-wie verdrängt, wir haben aufgehört, über die endlichen Grenzen für die Materialerwartungen und Hoffnungen der Menschheit zu sprechen, weil diese Botschaft nichts fruchtete. Im großen und ganzen wollten die Menschen nichts davon wissen, und damals gab es nicht genügend Beweise, um eine Fortführung der auf die Grenzen orientierten Analyse der Nichtnachhaltigkeit zu rechtfertigen.

So ließen wir das alles hinter uns, indem wir einfach davon ausgingen, dass das nicht als psychologischer Hebel für die Prozesse des politischen und sozialen Wandels wirken konnte. Ich denke, dass Lester Browns große Stärke darin besteht, darauf zurückzukommen und zu sagen: "Ihr dachtet, all diese Fragen der Grenzen von Wachstum sind passe? Denkt noch mal darüber nach!" Wenn eine Nation mit 1,3 Milliarden Menschen, die jährlich um 14 Millionen Menschen wächst, ihre Wirtschaft schneller ausweitet, als irgendjemand in diesem Land [England, d.Ü.] überhaupt verstehen kann die chinesi-sche Wirtschaft hat sich seit 1979 verfünffacht, dann müssen wir ganz einfach zu dem Gedanken von den Grenzen des Wachstums zurückkehren.

Das ist verteufelt schwierig, und zwar weil wir alle Opfer nicht so sehr der Auswirkungen des Wachstums noch seiner Wohltaten, sondern vielmehr Opfer der Ideologie des Wachstums sind. Es handelt sich um eine Ideologie, die ihre Nützlichkeit ganz deutlich mit dem Argument an den Mann bringt, dass wir nur durch ein exponentielles ökonomisches Wachstum den materiellen Lebens-standard und die Lebensqualität erhalten können. Es handelt sich um eine inzwischen universelle Ideologie. In vieler Hinsicht hat sie die andere Universalien aus früherer Zeit ersetzt, darunter auch einige der offenbarten religiösen Wahrheiten. Diese Ideologie ist aktuell nicht als ein Mittel anzusehen, um bestimmte Zwecke in der Gesellschaft zu erreichen; sie ist einzuschätzen als ein Selbstzweck in sich selbst und ist, so meine ich, der Selbstzweck selbst, das Prinzip, welches alle politischen Methoden bestimmt.

Der Grund dafür ist von vielen einflussreichen und klarsichtigen Ökonomen erläutert worden: der Konsum, welcher das Rad der Wirtschaft dreht, ist nicht nur eine wünschenswerte Aktivität, wie man es früher sah; er ist zur Pflicht jedes selbstzufriedenen Bürgers eines jeden Landes geworden. Ich werde regelmäßig zur Weihnachtszeit daran erinnert, wie sehr unsere Pflichten als englische Bürger uns angeboren erscheinen in der endlosen Begeisterung, hinauszugehen und wie verrückt einzukaufen. Wenn wir nicht einkaufen und speziell in dem Auftrieb vor Weihnachten, dann drehen sich die Räder der Wirtschaft nicht schnell genug, und die Dividenden, die wir erhalten Nutzen, Gehälter, Löhne werden nicht ausgezahlt. Wenn wir in einer Zeit, in der wir uns auf die über-aus unbeschreiblichen, wunderbarsten Dinge konzentrieren sollten, sogar schauderhaft unpassende Klöppel-Spitzen kaufen würden, so macht das gar nichts; denn wir haben als Verbraucher die Pflicht, da draußen zu sein und unser Geld auszugeben.

Ich denke, dass man dieser Ideologie entgegentreten muss. Ich möchte gern zu klären versuchen, warum wir es bisher nicht geschafft haben, dieser Ideologie angemessen zu begegnen, und zwar mit unseren Erziehungs-Methoden sowie mit den geistigen und religiösen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.

Ich bin sehr beeindruckt von einer Analogie im Werk von Thomas Berry, der sehr weise und menschlich über die Schwierigkeiten geschrieben hat, denen religiöse und politische Führer heute gegenüberstehen, indem sie sich "zwischen verschiedenen Geschich-ten" oder Kosmologien wiederfinden. Was er damit meint, bedeutet, dass wir heute eingeklemmt sind zwischen einer alten Geschichte, an der wir immer noch hängen (aus Nostalgie, Treue und Ungewissheit über die Alternativen) sowie einer neuen kosmologischen Geschichte, die sich in unserer Mitte entfaltet, die aber noch recht entmutigend und tatsächlich auch entnervend für diejeni-gen ist, die sich an diese Ebene des Denkens noch nicht gewöhnt haben.

Ganz einfach gesagt, beruht die alte Geschichte aus einer westlichen Sicht auf der jüdischchristlichen Tradition, die im Lauf der Jahrhunderte durch die Prinzipien des wissenschaftlichen Materialismus verstärkt wurde. Wesentlich ist der Glaube an einen transzendenten Gott, und wir sollen glauben, nach dessen Bild einzigartig erschaffen worden zu sein. Kein anderes Lebewesen auf der Erde teilt diese Verpflichtung und dieses Privileg, und deshalb steht alles andere auf der Erde unter unserer Herrschaft, damit wir darüber verfügen. So mag es gehen mag bis zum Zeitpunkt der Wiederkunft des Herrn, die alles in durchaus anderer Weise auflösen wird. Die Natur wird seit dem Sündenfall als verdorben angesehen, so wie wir alle selbst-verständlich auch, und in der Zwischenzeit müssen wir tun, was wir tun können, um die Erde so gut wie möglich zu verwalten.

Die neue Kosmologie, die zwar aus demsel-ben Glauben, aus demselben Grund er-wächst, ist davon sehr unterschieden. Sie lässt sich vielleicht zusammenfassen in dem einzigartigen Spruch von Meister Ekkehart: "Jede Kreatur ist ein Wort Gottes!" Diese Idee sieht uns, die menschliche Gattung, als das letzte Stadium in einem ungebrochenen, 15 Milliarden Jahre andauernden Prozess einer göttlichen kreativen Zielvorstellung, die das Ganze der Schöpfung als spirituell bedeutsam und Gott als Bestandteil dieser Schöpfung sieht, mit uns Menschen nicht als davon gesonderte Wesen, sondern als bewusster Ausdruck dieser Schöpfung.

Es ist wichtig zu sagen, dass es die alte Ge-schichte ist, welche diese neue Geschichte gebar, und in vieler Hinsicht ist die neue Geschichte immer in die alte eingebettet gewesen. Es ist sehr wichtig, auf diesen Punkt zu verweisen, speziell für diejenigen, die mit der neuen Weltbetrachtung nicht klarkommen, weil diese sich selbst manchmal als eine neue Religion darstellt. Ich denke, das ist ganz falsch. Daran ist überhaupt nichts neues. In vieler Hinsicht ist es die älteste Religion auf der Erde und in der Welt. Sie ist weit davon entfernt, frisch gemünzt worden zu sein, um den Anforderungen der Gegenwart gerecht zu begegnen. Eher ist sie eine Neu-Interpretation und ein Wiederfinden von sehr alter Weisheit und alten Wahrheiten. Thomas Berry hat das in dem Gedanken zusammengefasst, dass das Universum die Hauptoffenbarung des Göttlichen, die Heilige Schrift und der Hauptort der göttlichmenschlichen Zwiesprache ist.

Interessanterweise befinden wir uns nicht nur zwischen verschiednen kosmologischen, sondern auch zwischen verschiedenen politi-schen Geschichten. Auf dem Erdgipfel 1992 [in Rio de Janeiro] kamen die führenden Männer und Frauen der Welt zu dem Schluss, dass die Art und Weise, wie wir heute leben, Wohlstand schaffen und verteilen, nicht unbegrenzt in aller Zukunft beibehalten werden kann. Sie sahen ein, dass sie als Weltführer verpflichtet waren, die Auswirkungen dieser Nicht-Nachhaltigkeit (unsustainability) abzuwägen und sie in ein nachhaltiges (sustainable) System umzuwandeln. Dieses Treffen markierte einen überaus wichtigen Meilenstein des menschlichen Abenteuers, der ganz zu unrecht von vielen Umweltschützern als heiße, rhetorische Luft abgetan wurde. Vielmehr war das eine ernst-hafte Inventur über uns als Gattung heute auf diesem Planeten.

Natürlich ist es trotzdem wahr, dass es un-endlich viel leichter zu sagen ist, wir leben nicht nachhaltig, als der Politik zu vermitteln, dass sie uns erlaubt, nachhaltig zu leben. Und wahr ist auch, dass, obwohl wir die Nichtnachhaltigkeit unserer Systeme durch-schauen, wir nicht erkannt haben, dass die Ursache dieser Nicht-Nachhaltigkeit in der Ideologie des Wachstums zu finden ist.

Dies bleibt eine Wahrheit außerhalb des existierenden Konsenses über die Nachhaltigkeit (sustainability).



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