Zen praktizieren?
Die Zivilisation in einer Sackgasse
von Kodo Sawaki


Die Wissenschaft kommt rasch voran, weil sie sich das Wissen der andern ausleihen kann. Aber unser Menschsein kann von niemandem ausgeliehen werden, deshalb entwickeln wir uns nicht weiter. Und dies führt zur beängstigenden Situation unschuldiger Kinder, die mit tödlichen Waffen spielen.

Unser Zeitalter zeichnet sich aus durch eine grosse Entwicklung der Wissenschaft und der materiellen Mittel, aber das Bewusstsein des Menschen, sein Verständnis des Lebens und seine Beziehung zum Universum haben wenig Fortschritte gemacht.

Die wissenschaftliche Wahrheit kommt voran, aber ihre Erklärungen des Universums bleiben provisorisch, eine Theorie jagt die andere. Ebenso wie eine Landkarte nicht die Landschaft ist, ist das wissenschaftliche Verständnis der Wirklichkeit zwar eine Annäherung, hat aber keinen Zugang zur Wirklichkeit. Es ist, wie die Zenmeister sagen, "den Finger, der auf den Mond zeigt, für den Mond halten". Die großen Zenmeister hatten schon immer, wie Meister Dogen im 13. Jahrhundert bezüglich des Themas Raum und Zeit, ein gesamtheitli-ches und intuitives, über die Theorien hinaus-gehendes Verständnis der Wirklichkeit des Universums.

Heutzutage dienen Wissenschaft und Technik weniger dem Menschen als der Wirtschaft und dem Krieg. Die Menschen trennen sich mehr und mehr von ihrer natürlichen Umwelt ab und sind immer künstlicheren Wünschen unterworfen. Die materiellen Erleichterungen nennt man meistens Fortschritt.

Zen steht nicht im Gegensatz zu Wissenschaft oder Technik. Aber ein zu materialistisches Leben schafft beim Einzelnen ein Ungleichgewicht. Die Zazen-Praxis als Weg der Mitte stellt ein Gleichgewicht her zwischen Materia-lismus und Spiritualität, zwischen materiellem Leben und menschlichem Bewusstsein.
Wenn die Wissenschaft nicht von einer tiefen Weisheit gelenkt wird, bewirkt sie einen Rückschritt in Bewusstsein und Lebensweise der Menschen indem sie sie immer mehr vom kosmischen System, wovon sie ein Teil sind, abschneidet.

Die moderne Erziehung beruht auf der Aneig-nung eines immer umfassenderen Wissens. Sie spricht das Gedächtnis, die kartesianische, logische, unterscheidende Intelligenz an. Das Individuum wird zu einer Maschine, die denkt, rechnet und Kenntnisse speichert.

Das Leben in der Gesellschaft erzieht die Menschen aufgrund von Konventionen, die ihnen beibringen, zwischen gut und schlecht zu unterscheiden, und zwar nach Kriterien, die mehr angelernte Gewohnheiten sind als aus dem wirklichen Leben gewonnene Erkenntnisse. Ohne sich dessen bewusst zu sein, denkt der Mensch in gesellschaftlichen Schemata, auf Kosten von tiefer Weisheit und wahrer Freiheit. Er verliert seine Vitalität, seine Kreativität, seine Intuition. Er sucht den Erfolg im Leben anstatt eines gelebten Lebens. Daraus entsteht ein Ungleichgewicht, das oft zu Angst und Stress führt und Vitalität und Energie vermindert.

Die Erziehung des Zen, basierend auf der Pra-xis des Körpers und des Geistes, stellt das Gleichgewicht der Gehirnfunktionen wieder her. Durch die Zazen-Praxis manifestieren sich Intuition und Kreativität, die Vitalität wird wiedergefunden. Man lernt sich selber kennen, und das wirkliche, allesumfassende Verstehen stellt sich ein. In jeder Situation entspringt spontan und frei die passende Geste aus dem vereinten Körper-Geist, aus der wahrhaften Weisheit.

Durch die Zazen-Praxis öffnet sich das Bewusstsein einer höheren Dimension und die Weisheit zeigt sich. Das Gleichgewicht von Körper und Geist stellt sich wieder her. In diesem Sinne entspricht das Zen den Bestre-bungen, die für die heutige Zivilisation richtungsweisend sind.

Wiederfinden des Gleichgewichts

In unserer Epoche ist der Mensch im wesentlichen ein denkendes Wesen. Die Gesellschaft, die Erziehung, der wissenschaftliche und technische Fortschritt entwickeln ganz beträchtlich unser logisches Gehirn und vermindern unsere Intuition und Kreativität. Daraus resultiert ein Ungleichgewicht des Gehirns und des ganzen Menschen - es verringert unsere Lebensenergie (das ki), die nicht nur im Gehirn, sondern auch in den Nerven und in jeder Zelle unseres Körpers vorhanden ist.

Meister Deshimaru sagt: "Soll eine wahre menschliche Zivilisation so leben? Man muss dies bezweifeln. Die Gefahr einer materiellen Zivilisation liegt darin, dass sie dem Menschen seinen Antrieb, sein ki, seine Kraft nimmt.“

Gewiss ist die materielle Zivilisation notwendig, aber der Mensch sehnt sich auch nach einem Prinzip, das jenseits des Materiellen liegt. Sein Leben, seine tiefsten Wünsche sind nicht nur materiell, sondern auch spirituell. Sein Handeln darf sich nicht nur nach aussen richten, sondern auch auf seinen Geist, sein Bewusstsein. Meister Deshimaru sagt: "Man muss aufhören, für sein Essen zu arbeiten, sondern im Gegenteil essen und arbeiten, um sein grosses Ideal zu verwirklichen". Und er fügt hinzu: "Die wirkliche spirituelle Hilfe besteht darin, den Menschen das ki, die Antriebskraft zu geben".

Das ganze Universum ist voll von dieser Kraft, dem ki, und unser eigenes Leben ist nur eine Welle im unbegrenzten kosmischen Leben. Im Einklang mit der Natur sein, der kosmischen Ordnung folgen, von der wir stammen, unser Ego, bestehend aus Wünschen und Kalkül, kleiner werden lassen, dies bedeutet in Einheit sein mit dem Universum und von seiner Energie profitieren.

Zazen ist keine Religion. Aber es weckt das religiöse Prinzip, welches "verbinden" bedeu-tet, den Menschen mit der Natur, dem kosmischen System verbinden. Zazen, eine Praxis von Körper und Geist, weckt unsere vitale Energie. Es bringt unsere Gehirnfunktionen und unser Nervensystem ins Gleichgewicht; es gleicht das Materielle und das Spirituelle aus, es bringt den Menschen in Einklang mit der Natur. Zazen bringt unser Leben ins Gleichgewicht.



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